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Fazit
Wahrheitlichkeit vs Wahrheit
Von Lena Jakat Deskchefin, Süddeutsche Zeitung Online

Das Time Magazine fragt auf dem Titel seiner aktuellen Ausgabe. „Is Truth Dead?“ Ist die Wahrheit tot? Nein. Die Wahrheit ist nicht tot. Aber es geht ihr gerade nicht besonders gut. Zumindest machen sich viele Menschen Sorgen um die Wahrheit – damit meine ich die Wahrheit in ihrer öffentlichen Form und Funktion. Aus dieser Sorge heraus sind Gesetzesentwürfe entstanden, redaktionelle und technische Innovationen. Viele von den Projekten, über die wir hier heute gesprochen haben.
Eine gesunde Wahrheit ist konstitutiv für eine demokratische Öffentlichkeit, für das Forum, in dem Bürger, Politiker und Medien miteinander in den Diskurs treten. Dass diese Öffentlichkeit jemals völlig demokratisch war, darf bezweifelt werden. Angriffe auf die Wahrheit, Machtspiele in der öffentlichen Debatte gab es schon lange, bevor im Weißen Haus Präsident Trump regierte, lange bevor es Filterblasen gab und Bots und Twitter, Facebook – das Internet. Angriffe auf die Wahrheit gab es auch in der guten, alten prä-postfaktischen Zeit. Aber man muss jetzt nicht in Romantisierung oder, noch schlimmer, in Misstrauen gegen den technischen Fortschritt verfallen, um festzustellen: Der Debattenraum hat sich sehr verändert.

Die sozialen Medien haben den Raum für demokratische Diskussion erst mal weiter geöffnet. Doch Algorithmen, die das menschliche Bedürfnis nach Selbstbestätigung kapitalisieren sollen, haben diese Öffentlichkeit segmentiert. Die virale Logik funktioniert über Erregung und befördert so die Polarisierung. Social Bots kapern Themen, springen von einem politischen Großthema zum nächsten; sie schaffen künstliche Trends und verändern so die Agenda. Desinformationskampagnen lassen die digitale Öffentlichkeit zersplittern.

Professor Howard hat sehr anschaulich gezeigt, welche Ausmaße diese Phänomene im US-Wahlkampf angenommen haben. Er hat geschildert, wie Bots Clinton-Wähler mit Anti-Clinton-Propaganda überschüttet haben, wie Bots während der TV-Debatte die sozialen Netzwerke mit Meldungen geflutet haben, die Trump zum Sieger erklären.
Die Sorge um die Wahrheit, sie scheint berechtigt zu sein.

Was also ist zu tun? Wir haben hier heute von einigen Ansätzen gehört. Sollte man, wie es Phil Howard vorschlägt, die Betreiber sozialer Netzwerke stärker in die Pflicht nehmen? Sollte man von Facebook und Twitter einen Beitrag zur Demokratie fordern? Diese Konzerne sitzen schließlich auf den Daten, die zum Beispiel darüber Aufschluss geben könnten, welchen Einfluss Bots und Fake News tatsächlich auf das Wahlverhalten haben.

Es ist wichtig, die Konzerne an ihre öffentliche Verantwortung zu erinnern, es ist wichtig, darauf zu drängen, dass sie konsequent gegen betrügerische Inhalte vorgehen, darauf zu drängen, dass sie transparente Regeln für den Einsatz von Bots schaffen.

Aber wenn es darum geht, den demokratischen Diskurs zu erhalten, dann reicht es nicht, sich auf das ethische Entgegenkommen amerikanischer Konzerne zu verlassen.

Braucht es also gesetzliche Lösungen? Ein Gesetz gegen Fake News, wie es Bundesjustizminister Maas plant? Oder ein Gesetz gegen Bot-Netzwerke, wie es die hessische Regierung will?

Hessens Justizministerin Eva Kühne-Hörmann hat heute über dieses Gesetz gegen digitalen Hausfriedensbruch gesprochen; sie hat es selbst einen „Mini-Baustein“ genannt. Selbst falls Gesetze wie dieses an den richtigen Punkten ansetzen: Kein deutsches Gesetz wird Donald Trump daran hindern, über angebliche Ereignisse in Schweden zu twittern.
Die Politik muss sich mit digitalem Recht beschäftigen. Das ist richtig und wichtig. Noch wichtiger ist, was Frau Kühne-Hörmann auch angesprochen hat: Prävention. Es braucht politische Kraftanstrengungen, es braucht Investitionen für Medienbildung.

Demokratischer Diskurs funktioniert nicht ohne aufgeklärte Staatsbürger. Und dazu, ein aufgeklärter Staatsbürger zu sein gehört es heute, Fake News identifizieren zu können, automatisierte Kommunikation von menschlicher unterscheiden zu können, erkennen zu können, ob hinter einem Account ein Bot steckt oder eine reale Person.

Die Vermittlung von Medienkompetenz ist wichtiger denn je. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass jeder einzelne von uns verantwortungsbewusst und zielgerichtet mit seinen Daten umgehen kann, so wie es Phil Howard gefordert hat. Nur dann behält die Demokratie die Demokraten, die sie braucht – wie Bettina Gaus sagte.

Studien zum US-Wahlkampf haben gezeigt, dass die Öffentlichkeit polarisiert ist. Sie haben aber auch gezeigt, dass diese Polarisierung einseitig ist – und zwar nach rechts. Ähnliche Tendenzen gibt es, wie wir von Professor Howard und seinem Team gehört haben, auch in Deutschland.

Das zeigt: Es sind nicht allein die neuen Technologien, die sozialen Medien mit ihren Algorithmen, die den Diskurs verändert haben.

Bettina Gaus und Joachim Becker haben es aufgegriffen: Populisten wie Trump propagieren, das „wahre Volk“ zu vertreten. Alle anderen, die Wähler der Opposition, die kritischen Medien , sind automatisch nicht Teil, sondern Feinde dieses Volkes. Für Trump zum Beispiel gehören dazu New York Times, CNN und andere Fake News Media.

Bettina Gaus hat sich in ihren Ausführungen zum Populismus zuversichtlich gezeigt – mit Blick auf den Fortbestand der Demokratie. Doch auch wenn die destruktiven Stimmen leiser werden: Das populistische Element gewinnt an Bedeutung.
Populisten profitieren von viralen Mechanismen. Umgekehrt entfalten die Algorithmen der sozialen Netzwerke ihre Wirkung erst im Zusammenspiel mit plumpen Parolen, mit emotionalen Botschaften, mit extremen Interpretationen und Lügen. Erst dann verändert sich der Diskurs so, dass er die Wahrheit krankmacht.
Jeden Tag beschäftigen wir uns am Newsdesk derzeit mit Herrn Trump. Oft sind wir mittags in der Kantine, wenn unsere Handys vibrieren. Donald Trump ist wach und hat gerade zum ersten Mal getwittert.

Das Problem, die Herausforderung für uns, — ist dabei aber nicht, dass der amerikanische Präsident per Twitter „alternative Fakten“ verbreitet. Das Problem ist – erstens – sein Verständnis von Wahrheit. Trump setzt Wahrheit mit Instinkt gleich. Und darüber spricht er auch ganz offen. Dem Time Magazine hat er jetzt gesagt: „Ich bin eine sehr instinktive Person. Aber es stellt sich heraus: Meine Instinkte sind richtig.“ Die Wahrheit ist für ihn ein Gefühl.

Der amerikanische Satiriker Stephen Colbert hat für dieses Verständnis von Wahrheit den Begriff Truthiness erfunden, ein Wort, das mein Kollege Sebastian Hermann übersetzt hat mit „Wahrheitlichkeit“. Sieht so ähnlich aus wie Wahrheit, fühlt sich so an. Psychologisch macht das kaum einen Unterschied: Je öfter wir eine Behauptung hören, desto eher halten wir sie unbewusst für wahr.

Das Problem ist zweitens, dass die Menschen Trump seine Lügen verzeihen, sie sogar akzeptieren als neue Art, Politik zu machen. Das wiederum dürfte auch daran liegen, dass die Wahrheit, wenn wir sie als Kommunikation auf der Basis überprüfbarer Fakten begreifen, dass diese Wahrheit schon länger krank ist. Das Vertrauen der Menschen in die Wahrheiten, die Politiker, die wir Medien verbreiten, schwindet schon länger. Auch die Debatte darüber, dass dieses Vertrauen in die Eliten schrumpft, führen wir nicht erst seit November.

Es musste aber erst Donald Trump kommen, eine AfD, die mehr Facebook-Fans hat als SPD und CDU zusammen, damit wir – wir aus der Diskurselite – so richtig erschrecken. Damit wir bemerken, dass es in der Öffentlichkeit um uns herum nicht nur Akteure gibt, die lauter schreien als wir, sondern, dass die auch gehört werden. Wir blicken uns erschrocken um und sehen Menschen mit zweifelhafter demokratischer Gesinnung. Wir sehen kommerzielle Algorithmen und – immer vorausgesetzt wir erkennen sie – wir sehen Maschinen, die sich in die Debatte einmischen.

Wir kriegen es mit der Angst zu tun, wir fürchten um die Wahrheit, fürchten, dass sie im Netz zwischen den vielstimmigen Wahrheitlichkeiten keinen Platz mehr hat.

Dieser Schreck sollte uns Journalisten motivieren. Denn tatsächlich liegt hier gerade eine riesige Chance.
Joachim Becker hat zum Auftakt den Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte mit den Worten zitiert, es gebe keinen Vertrauensvorsprung mehr. Zumindest mit Blick auf die Medien in Deutschland gilt das – zum Glück – noch nicht. Wie Bettina Gaus sagte: Das Vertrauen in die Institutionen ist noch nicht so stark beschädigt, dass die Demokratie bedroht wäre.
Die meisten Menschen vertrauen in Krisenzeiten nach wie vor auf die Information professioneller Journalisten. Das sieht man bei Terroranschlägen, bei Naturkatastrophen. Und das hat sich jetzt bei der Wahl in den USA gezeigt. Die New York Times hat im letzten Quartal 2016 mehr als eine Viertelmillion neuer Abonnenten gewonnen. Eine Viertelmillion! Das sind eine Viertelmillion Vertrauensbeweise.

Der Verlag investiert fünf Millionen Dollar in den Aufbau eines neuen Rechercheteams. Da hat Trump die ersten amerikanischen Jobs geschaffen – und das lange, bevor er überhaupt ins Weiße Haus eingezogen ist.
Auch das ZDF baut mit Check17 – wenn auch in deutlich kleinerem kleineren Maßstab – ein eigenes Rechercheteam für das Wahljahr auf. Die Krise der Wahrheit ist eine Chance für den Journalismus. — Sie ist ein Auftrag. Manche feiern schon die Erweckung des Journalisten zum Aktivisten, den Beginn einer Ära des journactivism.

Ich glaube nicht, dass wir als Journalisten in politischen Aktivismus verfallen sollten. Im Gegenteil, ich glaube, das ist eine Versuchung, der wir widerstehen sollten, weil das dem Diskurs am Ende zusätzlich schaden könnte. Das ist manchmal nicht ganz einfach, weil wir in der Fake-News-Debatte schließlich auch selbst angegriffen werden.

Wir Nachrichtenmenschen sollten uns darauf konzentrieren, unseren Job ordentlich zu machen. Das bedeutet auch – um das Beispiel von Bettina Gaus noch einmal aufzugreifen – dass wir Journalisten demokratische Entscheidungen respektieren müssen, auch wenn wir sie idiotisch finden – den Brexit zum Beispiel.

Wir müssen mit dem Vertrauensvorsprung, den wir als etablierte Akteure im demokratischen Diskurs noch haben, verantwortungsvoll umgehen. Und ihn weiter ausbauen. Es wird spannend, ob – mit Kajo Wasserhövel – der Wahlkampf 2017 eine Dienstleistung für die Demokratie wird, oder doch eher Kontaktsport.

Aussagen von Politikern zu hinterfragen, sie zu überprüfen, einzuordnen und zu widerlegen, ist keine Aufgabe, die Herr Trump für uns erfunden hat. Wie Yvette Gerner, die Kollegin vom ZDF, heute zu Recht betont hat: Das ist journalistisches Kerngeschäft, gerade in Wahljahren. Klar, die Herausforderungen sind gewachsen. Wir Journalisten müssen unsere Arbeit noch gewissenhafter erledigen. Wir müssen noch gründlicher recherchieren, noch sauberer einordnen, noch schneller und zuverlässiger Kontext und Hintergründe liefern. Fact-checking-Initiativen wie die vom ZDF sind die richtige Antwort auf die aktuellen Herausforderungen.

Wir Medien müssen außerdem die faktenbasierte Wahrheit da sichtbar machen, wo extreme Meinungen einen Startvorteil haben: in der Öffentlichkeit der sozialen Netzwerke. Wir müssen dafür sorgen, dass die Wahrheit dort zwischen all den Wahrheitlichkeiten gehört wird.

Initiativen wie Schmalbart und Werkzeuge wie Factfox können helfen, jeder einzelnen gefühlten Wahrheit einen Fakt entgegenzusetzen. Wir, die professionell im politischen Diskurs unterwegs sind, sollten von solchen Projekten, voneinander und auch von den anderen lernen. Damit es uns gelingt, dass die Wahrheit am Ende durch all die einzelnen Blasen hindurch diffundiert.

Wir als Massenmedien müssen uns außerdem der Verantwortung bewusst sein, die wir übernehmen, wenn wir Statements von Politikern aufgreifen. Der AfD-Politiker Björn Höcke hat 46.000 Fans auf Facebook, die SZ immerhin 650.000 – mehr als zehnmal so viel. Von den Reichweiten von ARD und ZDF ganz zu schweigen. Wenn wir Medien über falsche oder provokante Aussagen von Björn Höcke oder von anderen Politikern berichten, dann verbreiten wir diese Aussagen weiter – wie ein mächtiges Botnetz.

Wir verstärken die Social-Media-Algorithmen, wir tragen solche Nachrichten in die breite Debatte. Dessen müssen wir uns bewusst sein, wenn wir in den Redaktionen darüber sprechen, welche Zitate wir aufgreifen und vor allem: Wie wir berichten. Wir Nachrichtenmacher dürfen nicht der Versuchung nachgeben, der steilen These, dem vorgegebenen Spin zu folgen.

Wir müssen innehalten, die Erregungsmechanismen erkennen. —- Aussagen direkt als das enttarnen, was sie sind: Ablenkungsmanöver, Nebelkerzen, Provokationen. Wir müssen unserem Publikum ein alternatives Narrativ liefern: die Wahrheit. Das ist mühsamer, als knallige Zitate einfach zu vervielfältigen. Aber das ist die demokratische Aufgabe von Journalismus.
Wahrheit, Wahrheitlichkeit – fehlt noch die Wahrhaftigkeit. Was ein bisschen altmodisch und pathetisch klingt, was aber am Ende nichts Anderes meint als Transparenz. Wir Medienmenschen müssen unsere Arbeit transparent machen; wir müssen Fehler einräumen, unsere Standpunkte offenlegen und wo nötig auch redaktionelle Entscheidungen.

Die New York Times wirbt gerade mit dem Slogan: „Truth. it’s more important now than ever“. Die Wahrheit ist wichtiger denn je. Und sie kränkelt hier und da gerade ein bisschen. Unser Job ist es, sie zu pflegen, dafür zu sorgen, dass sie noch lange überlebt.

30. März 2017
https://twitter.com/lenajakat