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Keynote
Atomisierte Öffentlichkeit: Zerstören Soziale Medien die Demokratie?
Von Philip N. Howard Professor of Internet Studies at the Oxford Internet Institute

Auszug aus dem Vortrag vom lpr-forum-medienzukunft
am 30.März 2017 in Frankfurt am Main

Die Funktionsweise und die große Reichweite sozialer Netzwerke haben in westlichen Staaten ein Demokratie-Defizit entstehen lassen. Verursacht wird dies 1) durch die Algorithmen, die dafür sorgen, dass Nachrichten auch aus unzuverlässigen Quellen (Fake News) sich durch die viralen Strukturen, die Verbindungen der einzelnen zu ihren Netzwerk-„Freunden“, wie ein Lauffeuer verbreiten.
2) Zweitens kanalisieren die Algorithmen Aufmerksamkeit innerhalb des Netzwerks der Nutzer-Verbindungen und schaffen damit Strukturen, die in der Politikwissenschaft als „Wahlverwandtschaften” oder „selective exposure” bezeichnet werden. Wir tendieren nun einmal dazu, Verbindungen mit Menschen und Organisationen einzugehen, die wir bereits kennen und die wir mögen.
3) Von Technologie-Unternehmen wie Facebook und Twitter wurde bislang nicht eingefordert, Normen und Standards des demokratischen Diskurses zu befolgen, so wie wir es von den Medien oder zivilgesellschaftlichen Organisationen verlangen.

Der Europäische Forschungsrat/European Research Council (ERC) fördert unsere breit angelegte Untersuchung in einer Reihe von Ländern über den Einfluss automatisierter Propaganda. Erste Ergebnisse unserer Studien liegen vor (www.politicalbots.org). Sie zeigen, wie Social Media Plattformen zur Schlüssel-Infrastruktur für den politischen Diskurs wurden und wie die technologische Struktur (Angebotscharakter) das Demokratie-Defizit hat entstehen lassen. Daraus können wir Vorschläge ableiten, damit soziale Netzwerke eine funktionierende Infrastruktur für Deliberation und ein funktionierendes demokratisches Gemeinwesen sein können.

Soziale Netzwerke sind sicherlich mitverantwortlich zu machen für die politischen Überraschungen im zurückliegenden Jahr: Das Brexit Referendum sowie der Ausgang der US-Präsidentschaftswahl. Gesellschaftliches Vertrauen ist erodiert. Und es ist besonders geschwunden gegenüber Experten und Wissenschaftlern, und dies vor allem in Forschungsfeldern, in denen es großer Anstrengung bedurfte, Konsens mit der Bevölkerung herzustellen. Wissenschaftler sind sich längst einig, dass der durch Menschen verursachte Klimawandel katastrophale Auswirkungen auf unsere Lebensqualität hat. Die Feststellung, dass Rauchen Krebs erzeugen kann, basiert auf jahrzehntelanger Forschung. Unter den westlichen Sicherheitsexperten herrscht Einigkeit, dass Russland im vergangenen Jahr bei der US-Präsidentschaftswahl eine eigene Agenda verfolgt und eingegriffen hat. Aber in vielen westlichen Ländern ist das Vertrauen in die Ergebnisse der Klimaforschung schwach, und Bürger bezweifeln, ob zwischen Rauchen und Krebserkrankungen überhaupt ein Zusammenhang besteht. Und vielerorts beherrschen verwirrende Gerüchte die öffentliche Debatte und vernebeln so den Blick auf drängende Probleme, wie zum Beispiel auf Fragen der nationalen Sicherheit. Plattformen wie Facebook und Twitter sind mit verantwortlich für die Erosion des gesellschaftlichen Diskurses und damit für das Entstehen eines demokratischen Defizits. Denn Fake News, Lügenkampagnen und Hassreden in den sozialen Netzen haben die Fähigkeit der Bürger, öffentlich zu debattieren und fundierte Entscheidungen zu treffen, untergraben. Sicherlich sind diese Netzwerke nicht Urheber von Falschinformation, aber sie machen sie den Bürgern zugänglich.

Die eigentliche Sünde der sozialen Netzwerke ist jedoch eine Unterlassung der besonderen Art. Es ist die Unterlassung, der Öffentlichkeit Daten zur Verfügung zu stellen, die jedes demokratische Gemeinwesen braucht um zu funktionieren, um zu gedeihen. Die Netzwerke sitzen auf einem ständig wachsenden Berg von Daten über das, was Bürger bewegt, was sie wünschen, was sie brauchen, wie sich ihre Wahlabsichten entwickeln und schauen zu, wie Meinungsforscher, Journalisten und Politiker unzutreffende Prognosen machen und schlecht begründete Entscheidungen treffen – auf der Grundlage mangelhafter Informationen.

2008 wurde der erfolgreiche Einsatz sozialer Medien in Barack Obamas Wahlkampagne viel beachtet und galt als beispielhaft. 2016 nutzten sowohl Trumps Wahlkampfteam als auch Hillary Clintons Mannschaft in ihren Kampagnen die Netzwerke in ähnlicher Weise. Doch Facebook und Twitter sind in diesem Wahlkampf zugleich die Infrastruktur für die Verbreitung von Falschinformationen zu wahlrelevanten Themen. In der Folge herrschte bei den Nutzern vielfach Verwirrung über Ursprung, Glaubwürdigkeit, Wahrheitsgehalt oder die Absicht, die hinter den politischen „clickbaits” steht. Meine Forschung zu automatisierter Propaganda zeigt, dass Facebook und Twitter leicht genutzt werden können, um politische Debatten zu beeinflussen – vor allem, wenn hochautomatisierte Accounts und Algorithmen (social bots), Attacken an einzelne richten und Lügen propagieren.
Netzwerke von Bots werden als „botnets” bezeichnet; der Begriff, zusammengesetzt aus „robot” und „networks”, beschreibt eine Ansammlung über Programme verbundener Computer, die über eine Vielzahl von Geräten kommunizieren, um eine Aufgabe auszuführen. Es gibt seriöse und rechtmäßige „botnets”, wie das Carna Netzwerk, mit dem die erste Zählung von mit dem Internet verbundenen Endgeräten durchgeführt wurde. Es gibt aber auch böswillige und heimtückische Netzwerke, die Spam verbreiten, Distributed Denial of Service (DDoS) Attacken starten und vertrauliche Informationen stehlen und für Click Fraud, Cyber-Sabotage und Cyber-Kriegsführung genutzt werden. Auf Social Media sind „botnets” miteinander verbundene, automatisierte Accounts, die einander folgen und miteinander kommunizieren. Diese Social Bot-Netzwerke bestehen oft aus hunderten Accounts, können aber von einem einzigen Betreiber von einem einzigen Computer aus bedient werden. Sie skalieren also.

Verglichen mit diesen Entwicklungen im Netz sind die Methoden der Meinungsforschung obsolet geworden. Sozialwissenschaftler warnen seit Jahren, ja seit Jahrzehnten, vor der wachsenden Unzuverlässigkeit von Telefonumfragen und schlagen stattdessen Internet-basierte Umfragemethoden vor. Es ist eine besondere Herausforderung, zu erheben und abzubilden, was die Bevölkerung weiß und was die Bevölkerung will – auch weil heutzutage so gut wie jeder über sein Smartphone Zugang zu den sozialen Netzen hat und damit auch politische Informationen ständig abrufen kann.

Damit Demokratie heute funktionieren kann, sind zwei Arten von Umfragesystemen unerlässlich.

1. Funktionierende Demokratien benötigen Wählerbefragungen direkt im Anschluss an die Wahl, nicht nur um schnell Prognosen für den Wahlausgang zu haben, sondern auch und vor allem um zu prüfen, ob die Wahlen korrekt gelaufen sind. Solche Umfragen können schwere Fehler bei der Durchführung von Wahlen aufzeigen und somit Vorwürfe über Wahlbetrug bestätigen oder verwerfen. Wählerbefragungen direkt im Anschluss an die Wahl sind in den USA 2002 endgültig gescheitert (und 2005 auch im Vereinigten Königreich), als der nationale Zusammenschluss der Medien die Koordination dieser „exit polls” einstellte. Diese Umfragen sind wohl eine der wichtigsten Errungenschaften der modernen Demokratie – unabhängige Wählerbefragungen beim Verlassen des Wahllokals, um im Nachhinein überprüfen zu können, ob die Befragungsergebnisse mit dem Ergebnis der Wahl übereinstimmen.

2. Sowohl Journalisten als auch Umfrage-Institute brauchen Zugang zu verlässlichen Daten über öffentliche Meinungen. Politiker brauchen diese Zahlen, um reagieren zu können. Aussagekräftige Umfragewerte sind wichtig, damit Bürger-Vertretungen, Lobbyisten, Behörden und amtierenden Politikern ein Hilfsmittel an die Hand gegeben wird, die Interessen der Bevölkerung zu verstehen – vor und nach der Wahl. Es ist bittere Ironie, dass die technischen Infrastrukturen von mobilen Endgeräten und Internet-Angeboten, die Facebook und Twitter so erfolgreich machen, unsere Fähigkeit untergraben, über politische Optionen nachzudenken und zu erheben, was die Bevölkerung will.

Es ist irreführend, ein politisches System, das von Umfragewerten beherrscht wird, zu verunglimpfen. Um zu verstehen, was der Wille der Bevölkerung ist, sind regelmäßige Umfragen genauso von Nöten wie Wahlen. Politikwissenschaftler heben seit längerem hervor, dass zuverlässige „exit polls” nach Wahlgängen und regelmäßige Umfragen zu politischen Themen zwischen den Wahlen, also während der Legislaturperioden, für das Funktionieren von Demokratien Voraussetzung sind. In der Debatte über deliberative politische Willensbildung wird in jüngster Zeit postuliert, dass bessere, demokratischere Entscheidungen zustande kämen, wenn sich vor Wahlen kleine Gruppen von Bürgern direkt mit Experten austauschten – vor allem, weil kleine Gruppen sich nicht von Falschinformation, Fake News und Haßrede beeinflussen ließen.

Unterdessen sammeln die sozialen Netzwerke – und allen voran Facebook – immer größere Mengen an qualitativ hochwertigen Daten über Meinungen und Stimmungen in der Bevölkerung an. Insbesondere Facebook hat gezeigt, dass es den ‚Puls der Nation’ erfolgreich messen kann, – so gut wie jede Nation. Das Unternehmen hat stolz verkündet, dass es seinen News Feed dazu benutzen könne, die Stimmung seiner Nutzer zu manipulieren. Facebook untersucht regelmäßig den Nachrichten-Konsum seiner Nutzer und erstellt dabei detaillierte Analysen über die Ursachen und Konsequenzen politischer Polarisierung auf seiner Plattform.

Facebook und Twitter besitzen aussagekräftige Daten, die sie über jeden sammeln, sobald er oder sie sich auf der Plattform anmeldet. Facebook und Twitter haben wiederholt gezeigt, dass sie mit diesen Daten aussagekräftige Rückschlüsse über Stimmungen und Meinungen in der Bevölkerung machen können, und mehr noch: dass sie zu machtvoller Einflussnahme auf die öffentliche Meinung in der Lage sind. Und damit experimentieren sie.

Nur Facebook und Twitter wissen, wie allgegenwärtig Fake News und Desinformationskampagnen während des Brexit Referendums und der US- Präsidentschaftswahl waren. Sie wissen, wer auf was geklickt hat, wie lange welche Inhalte gelesen wurden, an welchem Ort der Nutzer sich dabei aufgehalten hat, und sie wissen auch, wie Nutzer bei der letzten Wahl entschieden haben. Diese Plattformen wissen genug über Wählereinstellungen, um irreführende politische Werbung an unentschlossene Wähler auszuspielen und Nutzer ihrer politischen Orientierung entsprechend mit Informationen zu bedienen – konservativ gefärbte Nachrichten für Konservative, liberal gefärbte Nachrichten für liberal eingestellte Nutzer.

Längst sind Social Media Unternehmen wie Facebook und Twitter mehr Medien-Unternehmen als Technologie-Unternehmen. In entscheidenden Phasen politischer Willensbildung, bei Wahlen und Volksentscheiden sind wir darauf angewiesen, dass alle Medien den Prozess der gesellschaftlichen Selbstverständigung unterstützen, indem sie öffentliche Debatten organisieren, das Interesse der Wähler an der Wahl fördern und über Wahlkampf berichten sowie Stimmungen und Meinungen erheben.

Nun mögen vielleicht einige sagen, dass es nicht in der Verantwortung eines Technologie-Unternehmens liege, seine Daten im Interesse der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Von den traditionellen Medien-Unternehmen erwarten, ja verlangen wir, dass sie den demokratischen Diskurs zumindest unterstützen. Die Aufmerksamkeits- und Zufälligkeits-Strukturen von Social Media dagegen untergraben die demokratische Öffentlichkeit.

Das Problem der mangelhaften Datenlage über die öffentliche Meinung kann dadurch gelöst werden, dass soziale Netzwerke, allen voran Facebook, mit Medien-Organisationen kooperieren, um qualitativ bessere und häufigere Umfragewerte zu politischen Fragen zu ermitteln. Soziale Netzwerke könnten dabei eine Plattform für Wählerbefragungen direkt nach Verlassen des Wahllokals werden. Facebook könnte einen virtuellen Raum bieten, um mit demokratischen Fingerübungen zu großen politischen Fragen zu experimentieren, indem deliberative Umfragen oder zivilgesellschaftliche Jurys herangezogen werden. Das hat sich bereits als erfolgreichste Methode der politischen Beratung durch die Öffentlichkeit bewährt. So könnten diese Sozialen Netzwerke eine integrale Rolle bei der Verbesserung des demokratischen Prozesses spielen. Indem Social Media-Unternehmen lediglich eine offene Plattform für politische Kommunikation bereitstellen, untergraben sie den öffentlichen Diskurs. Indem sie politische Entscheidungsträger mit Daten unterstützen und Nutzern qualitativ hochwertige Informationen zugänglich machen, könnten sie dem demokratischen Defizit abhelfen.

Facebook und Twitter bedrohen unsere demokratischen Institutionen, weil sie die Öffentlichkeit fragmentieren, ja atomisieren, weil sie Falschinformationen verbreiten und weil sie sich der Verantwortung entziehen, die wir von Medien-Unternehmen erwarten. Sie schauen tatenlos zu, wie Journalisten und Umfrage-Institute die öffentliche Meinung falsch einschätzen. Fake News zu verbreiten und automatisierte Propaganda zuzulassen, um bestimmte Wählergruppen zu erreichen, ist schändlich und zerstört das demokratische Wertesystem. Das Anhäufen und Horten von Daten zur öffentlichen Meinung ist ein schwer wiegendes Vergehen an der Demokratie.

Soziale Medien-Unternehmen stellen die Plattformen bereit, auf denen die Mehrzahl der Bürger in westlichen Demokratien—und auch in vielen anderen Ländern—heute über Politik spricht. Sie sammeln wertvolle Daten über Stimmungen und Meinungen in der Bevölkerung, sie sind dazu in der Lage, unsere Institutionen zu stärken und uns aus dem demokratischen Defizit herauszuführen. Mit den sozialen Netzwerken war die Hoffnung verbunden, sie würden uns Anschluss und Zugang zu vielen verschiedenen Menschen ermöglichen. Stattdessen verbinden sie uns mit Leuten, die die gleiche Meinung wie wir haben. Durch technische Anpassung und Qualitätsüberwachung könnte ein großer Teil von Fake News aus dem Verkehr gezogen werden. Aber der nächste Schritt, den Facebook und die anderen tun müssen, ist, politische Entscheidungsträger, Journalisten und die Zivilgesellschaft aktiv zu unterstützen, die öffentliche Meinung in ihren Nuancen zu verstehen.

(Philip N. Howard ist Professor für Soziologie, Informationswissenschaft und Internationale Angelegenheiten. Er ist Autor von „Finale Vernetzung – Wie das Internet der Dinge unser Leben verändern wird.“ Verlag Bastei-Lübbe)

philip.howard@oii.ox.ac.uk
@pnhoward