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Auftakt
Im Universum der Fiktion
Von Joachim Becker Direktor der LPR Hessen

– Es gilt das gesprochene Wort –

Vom Pier zum Palais: Es sind die „winzigen Veränderungen“, die nach Leo Tolstoi „das wahre Leben“ ausmachen. Wir befassen uns heute mit den großen Veränderungen – „Im Universum der Fiktion“. Wir wollen reden über „maschinengenerierte Information und atomisierte Öffentlichkeit“.

Ich freue mich, dass Sie unserer Einladung gefolgt sind und die Veranstaltungsreihe erneut eine so gute Resonanz findet.

Seien Sie, meine Damen und Herren, herzlich willkommen zur achten Ausgabe des lpr-forum-medienzukunft.

Spätestens seit der Brexit-Kampagne und dem US-Präsidentschaftswahlkampf im vergangenen Jahr müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass auch der Prozess der politischen Meinungs- und Willensbildung von den disruptiven Kräften erfasst ist, die das Netz und die Digitalisierung freisetzen. Man könnte mit Stephan Ruß-Mohl auch sagen, dass die Aufmerksamkeitsökonomie der Medien zu einer Desinformationsökonomie mutiert. Lügen, Verschwörungstheorien und andere Formen von Propaganda werden dabei vor allem in sozialen Netzen gezielt eingesetzt – zum Nutzen einiger Akteure, zum Schaden des Gemeinwesens und der Demokratie.

Was dem Referendum über den Austritt des Vereinigten Königsreichs aus der EU am 23. Juni 2016 vorausging, war ein aggressiver Wahlkampf mit Lügen, Hetze, Angstmacherei – vor allem auf Seiten der Brexiteers. Der ehemalige Londoner Bürgermeister Boris Johnson machte seinem Ruf als begnadeter Politclown auch als Anführer der Brexit-Kampagne alle Ehre. Der konservative Politiker behauptete z.B.: “Wir schicken jede Woche 350 Millionen Pfund an die EU … und das ist noch eine Untertreibung.” In der Tat belaufen sich die britischen Zahlungen auf nicht einmal 1/3 dieser Summe. In dem Gewirr der Irreführungen und Unwahrheiten war längst ein aufgeladenes Klima entstanden, eine Stimmung der Fremdenfeindlichkeit und des Nationalismus, in dem Jo Cox, Labour-Abgeordnete und entschiedene EU-Befürworterin, ermordet wurde. Das ist noch nicht einmal ein Jahr her.

Deutlicher haben wir vielleicht den noch verstörenderen Wahlkampf Donald Trumps vor Augen – mit seinen Beleidigungen und Herabsetzungen, Unwahrheiten und Lügen. Und selbst als gewählter Präsident der USA bleibt Donald Trump in der Welt seiner „alternativen Fakten“. Er nennt Medien wie New York Times, Washington Post, CNN „Feinde des Volkes“. Eine Ungeheuerlichkeit, die umso größer ist in einem Land, das die Pressefreiheit an die erste Stelle seiner Verfassung gesetzt hat.

Nicht nur als Wahlkämpfer, sondern auch im Amt setzt Trump seine Themen über Twitter. Der selbsternannte „Hemingway der 140 Zeichen“ nährt damit für seine Anhänger die Illusion, direkt mit ihm verbunden zu sein. Keine Vermittler, keine Medien stehen zwischen ihm und seinen Wählern, die den vermeintlichen Willen des Volkes verfälschen könnten. Es ist das Prinzip der „direkten Repräsentation“, wie es der in Princeton lehrende Politikwissenschaftler Jan Werner Müller nennt.

Trump sagt: „I Am Your Voice“, und drückt damit den Anspruch des Populisten aus, das „wahre Volk“ zu vertreten, mit der Konsequenz, dass die, die ihn nicht unterstützen, nicht zum Volk gehören, mit der Konsequenz, dass der politische Gegner dämonisiert werden darf. Da bleibt kein Raum für Diskurs, für gründliches Abwägen, für die tastende Suche nach Antworten bei komplexen Fragen.

Es ist der Grundkonflikt zwischen der Idee einer offenen, pluralen Gesellschaft und der Vorstellung von Abschottung und traditionellen Hierarchien. Das führt zwangsläufig zur Frage, ob dieser Grundkonflikt derzeit so vehement geschürt wird, weil soziale Netze populistischen

Strömungen Vorschub leisten und extreme Positionen befördern?

Wir alle können im Netz mit “verschiedenen Ichs“ auftreten und mit jeder dieser Identitäten Teil einer Community sein. Anonymität und Pseudo-Identitäten schützen uns, und sie haben zugleich ein durchaus verführerisches Potenzial: nämlich die Grenzen des Anstands, des guten Geschmacks zu überschreiten sowie Normen und bisweilen auch Gesetze außer Acht zu lassen. Algorithmen sortieren nicht nach inhaltlicher Relevanz, sondern nach der Zahl der Clicks und Likes. Je häufiger etwas geteilt wird, desto wichtiger erscheint es.

Algorithmen sorgen auch dafür, dass wir nicht mit dem konfrontiert werden, was wir nicht mögen, was uns fremd ist, was uns herausfordern könnte, sondern mit dem, was zu uns – und damit auch zu unserem Weltbild zu passen scheint. Social Bots geben vor, echte Menschen in sozialen Netzwerken zu sein. Und sie skalieren, will sagen:

Wer eines dieser Computerprogramme steuern kann, kann eine beliebige Zahl davon steuern und damit die Aufmerksamkeit der Nutzer lenken – auf Fake News, also Lügen, oder auf Hassbotschaften. Am Tag der dritten Präsidentschaftsdebatte zwischen Trump und Clinton verbreitete Trumps Team 175.000 verschiedene Variationen seiner Argumente, vor allem über Facebook.

Wie gehen wir als Gesellschaft damit um?
Beispiel 1: Das Landgericht Würzburg hat Anfang März den Antrag auf eine Einstweilige Verfügung von Anas Modamani gegen Facebook abgelehnt. Der aus Syrien geflohene Mann hatte 2015 ein „Selfie“ mit Bundeskanzlerin Merkel aufgenommen, wir alle kennen dieses Bild. Dieses Foto wurde in verleumderischer Art bei Facebook verbreitet. Modamani wurde mit diesem Bild auch in Zusammenhang mit dem Berliner Attentat gebracht.

Dagegen wollte er sich wehren. Facebook sollte diese Bilder suchen und löschen, das braucht das Unternehmen jedoch nicht. Denn Facebook habe weder etwas behauptet noch verbreitet, noch sich die Inhalte zu eigen gemacht. Ganz so, als seien Plattformen völlig neutral, für nichts verantwortlich und löschten und filterten niemals etwas.

Das Gericht war Facebook gefolgt, dass das Unternehmen dafür keine „Wundermaschine“ habe.
Eine abschließende Entscheidung in der Sache wird es nicht mehr geben. Anas Modamani hat auf weitere Rechtsmittel verzichtet. Er hätte sich ohnehin einen neuen Anwalt suchen müssen. Sein bisheriger Rechtsbeistand hat das Mandat aufgegeben, er hat Morddrohungen erhalten.

Beispiel 2: Wenige Tage nach der Würzburger Gerichtsentscheidung stellt der Bundesjustizminister den Entwurf eines „Netzwerkdurchsetzungsgesetzes“ vor. Es ist der grundsätzlich lobenswerte Versuch, Strafbares zügig aus

dem Netz zu nehmen. Es ist damit auch ein Gesetz gegen Hate Speech und Fake News! Nur: Ist es wirklich so einfach wie es klingt? Ganz sicher ist es wichtig und richtig, die Betreiber sozialer Netzwerke stärker in die Verantwortung zu nehmen. Doch diese Verantwortung gilt es klarer zu definieren, Plattformen und Intermediäre wie Facebook sind keine neutralen Serviceanbieter, und sie sind keine Medienunternehmen im klassischen Sinn.

Unser Strafgesetzbuch definiert die Straftatbestände und Rechtsverstöße klar. Dass sie geahndet werden können und dem Recht Geltung verschafft werden kann, das dürfen weder Facebook noch die anderen Plattformen verhindern. Aber so wenig wie ein – auch demokratischer – Statt definieren darf, was wahr und was unwahr ist, so wenig dürfen wir Facebook und die anderen Plattformen zu Instanzen privater Rechtsdurchsetzung machen.

Meine Damen und Herren,
Besorgnisse über die Rolle jeweils neuer Medien gehören seit jeher zur Begleitmusik von Wahlen. Das war im 19. Jahrhundert so, als die Massenpresse aufkam, das war so im 20. Jahrhundert, als Radio und dann das Fernsehen die Plattformen ihrer Zeit waren. Erinnern wir uns an die Fernsehdebatten 1960 zwischen Richard Nixon und John F. Kennedy. Es war das erste Aufeinandertreffen von zwei US-Präsidentschaftskandidaten in diesem Medium, und diese vier Runden gelten als wahlentscheidend.

Und noch etwas: Weder Desinformation und Propaganda noch mediale Mobilmachung sind Erfindungen des Internetzeitalters. Es war übrigens die Katholische Kirche, die dem lateinischen Verb „propagare“, also verbreiten, zu seiner Karriere verholfen hat. Im Zuge der Gegenreformation gründet Papst Gregor XV. (der 15.) im Jahr 1622 die „Heilige Kongregation für die Verbreitung des Glaubens“, die Sacra congregatio de propaganda fide.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert mit seinen zerstörerischen Kriegen spielte die Kriegspropaganda eine furchtbare Rolle. Ihre Möglichkeiten wuchsen mit der Entwicklung der Massenmedien; ihr Ziel: Massenmediale Mobilmachung.

Und so war es nur folgerichtig, dass im Zuge der Definition der allgemeinen Menschenrechte auch das Thema Kriegspropaganda auf die Tagesordnung der Weltgemeinschaft genommen wurde.

Mit dem in 1966 beschlossenen UN-Zivilpakt ist sie verboten worden. Auch das Schüren von nationalem, religiösem oder Rassenhass will der „Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte“ bannen. Heute gehen unsere Besorgnisse weiter, weil Ausspähen und Einflussnahme unter digitalen Vorzeichen eine völlig andere Quantität und Qualität gewonnen haben.

Die Cyber-Angriffe im US-Wahlkampf, die auf die Rechner der Demokratischen Partei zielten und interne E-Mails von Hillary Clinton und ihres Stabchefs abgriffen, gelten im politischen Berlin als Menetekel für die Bundestagswahl. Längst sind es mehr als Vermutungen, dass Russland versuchen werde, in den bundesdeutschen Wahlkampf einzugreifen.

Liebe Gäste und Freunde des lpr-forum-medienzukunft,
die Entwicklung des Internet war verbunden mit den Verheißungen, den Menschen Zugang zu Informationen, zu Wissen, zu Ideen zu bieten, Partizipation zu ermöglichen und damit auch für ein Mehr an Demokratie zu sorgen. Das Web 2.0. ermöglichte jedem, vom Empfänger zum Sender zu werden. Die Distributionsapparate wurden, um es mit Bert Brecht zu sagen, zu Kommunikationsapparaten.

Und damit veränderten sich die Beziehungen – nicht nur zwischen Medien und ihren Nutzern, sondern auch zwischen den Nutzern. Timothy Garton Ash sieht uns als „elektronische Nachbarn“, die nicht im globalen Dorf, sondern in der globalen Stadt leben. Diese Kosmopólis existiert in den vielfältig physisch und virtuell verbundenen Welten.

Wir erleben derzeit eine Entgrenzung unserer Kommunikation, eine so rasante Weiterentwicklung der Technik, dass selbst Vint Cerf, einer der Väter des Internet, eher düster feststellt, „dass unser Denken und unsere Intuition nicht mehr hinterherkommen.“

Wir erleben derzeit die Affordanz des Netzes mit bisher nicht wahrgenommener Wucht:

Das Netz ermöglicht uns, etwas in die Öffentlichkeit zu bringen, und es macht es schwer, etwas für sich zu behalten. Es schafft Zugang zu Information und Wissen und setzt uns zugleich der Desinformation und Manipulation aus. Es bietet Freiheit und ist ein Instrument der Überwachung. Wir stehen also vor der Frage, wie wir Zivilität und Redefreiheit retten? Wir wollen nicht untergehen im Universum der Fiktion.

Wie wirklich ist die Wirklichkeit, war die Frage, mit der uns der kluge Paul Watzlawick konfrontiert hat. Heute müssen wir uns auch fragen, wie wahr ist die Wahrheit? Denn neben die Wahrheit ist nun die Wahr-heit-lich-keit getreten. Und neben Fakten gibt es nicht nur Fakes, sondern auch noch „alternative Fakten“.

Die „Zeit“ hat im November, kurz vor der US-Präsidentschaftswahl, eine Reihe renommierter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler befragt, was der Untergang der Fakten für ihre jeweiligen Forschungsfelder bedeutet. Der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte sagte dazu: „Es gibt keinen Vertrauensvorschuss mehr auf Kompetenz … Verschwörungstheorien und Verdächtigungen haben Konjunktur… Wer die Qualität der

Demokratie sichern möchte, muss sich über die neuen Mechanismen der politischen Kommunikation informieren.“ Genau das wollen wir heute tun, ohne Verschwörungen und Verdächtigungen, sondern mit der überzeugenden Kompetenz unserer Referenten.

Noch einmal herzlich willkommen zum lpr-forum-medienzukunft 2017.
Ich freue mich, dass mit der Staatsministerin der Justiz, Frau Kühne-Hörmann, die hessische Landesregierung mit einem Grußwort vertreten ist.

Ich freue mich, dass mit Professor Howard vom Oxford Internet Institute ein herausragender Forscher der Interdependenz von Politik und Technik unserer Einladung gefolgt ist. Ich freue mich, Kolleginnen und Kollegen aus anderen Landesmedienanstalten hier begrüßen zu dürfen, stellvertretend für alle den Vorsitzenden der Gremienvorsitzendenkonferenz der Landesmedienanstalten, Herrn Winfried Engel.

Ich freue mich über Ihr aller Kommen.

Den Sponsoren des lpr-forum-medienzukunft – ohne deren Engagement manches nicht möglich wäre – gebührt Dank für ihre zuverlässige Unterstützung dieser Veranstaltungsreihe.

Und jetzt übergebe ich das Mikrofon an Ingrid Scheithauer, die auch in diesem Jahr die Veranstaltung konzipiert und organisiert hat und uns durch das Programm führen wird.

30. März 2016