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Auftakt
Weitergeleitet ins Netz
Von Joachim Becker, Direktor der LPR Hessen

- Es gilt das gesprochene Wort -

Gut zwei Jahrzehnte ist es her, dass die ersten Medien online gingen. Und seitdem wissen wir, dass die alten Gewissheiten, wie Medien funktionieren, nicht mehr tragen. Längst kann jeder im Netz kommunizieren, mit einzelnen oder mit sehr vielen. Informationen sind jederzeit abrufbar, egal an welchem Ort und egal von welchem Ort. Die Zahl der digitalen Werkzeuge wächst ständig. Neue Möglichkeiten der Recherche bieten sich an. Aus Daten werden Geschichten. Neue multimediale Erzählformen entstehen. Die Rolle von Journalisten ändert sich, das Rollenverständnis des Publikums ebenso. Wenig bleibt, wie es war, Altes erodiert, auch vieles Bewährte und Sicher-Geglaubte verschwindet. Neues, Aufregendes, Vielversprechendes, aber auch Verstörendes, Irritierendes entsteht.

„Weitergeleitet ins Netz. Über neuen Journalismus, alte Medien und die digitale Moderne“ ist das Thema des lpr-forum-medienzukunft 2015, zu dem ich Sie sehr herzlich begrüße.

Der Journalismus ist im Netz nicht neu erfunden worden, aber das Internet hat das mediale Ökosystem fundamental verändert. Wir stecken mitten drin im Strukturwandel von Medien, Journalismus und Öffentlichkeit. Und wir stecken mitten drin im Kulturwandel einer Profession, die sich parallel mit der Industrialisierung herausgebildet und entwickelt hat. Es ist ein Transformationsprozess, der den Beteiligten viel abverlangt – den Journalisten, den Medieninstitutionen, den Nutzern.

Wenn sie die Änderungen im medialen Öko-System in einem Satz zusammenfassen sollten, schreiben die Autoren eines bemerkenswerten Essays über „Postindustriellen Journalismus“, dann wäre es dieser: „Alle haben plötzlich viel mehr Freiheit – die Berichterstatter, die werbetreibende Wirtschaft, die start-ups, und die, die bislang das Publikum waren, können kommunizieren – außerhalb der bisherigen Strukturen von Sendern oder Verlagen.“

Für die etablierten Medieninstitutionen bedeutet diese Art der Freiheit zunächst einmal ganz bitter den Niedergang ihres traditionellen Geschäftsmodells. Immer weniger Unternehmen nutzen die klassischen Medien, um für ihre Produkte zu werben. Der Schlüsselsatz der Werbetreibenden, man wisse schließlich nicht, welcher Teil des Werbebudgets wirkungslos sei, gilt im Netz eben nicht mehr. Die Wertschöpfungskette zeigt erhebliche Risse. Das heißt im Klartext: geringerer finanzieller Spielraum, Sparrunden, Stellenabbau, das Ende für viele Redaktionen.

Das Wort „Disruption“ geht um in der Medienbranche. Erst allmählich entwickeln die Medienhäuser Antworten auf den digitalen Wandel, manche, wie Springer oder die Verlagsgruppe des Guardian, schneller und radikaler als andere. Die privaten Sendeunternehmen diversifizieren, investieren in digitale Projekte, aber der Journalismus steht dabei nicht im Focus.

Bemerkenswert: Dieser Tage vermelden die deutschen Zeitungsverleger über ihren Verband, dass sie auf Innovationskurs seien. Sie sehen das „Digitalgeschäft als Wachstumstreiber“ ; die Mehrzahl von ihnen gibt in der BDZV-Studie an, Strategien zur Diversifizierung zu entwickeln. Das ist, zumindest in meiner Wahrnehmung, ein erstes optimistisches Zeichen eines zurückgekehrten Gestaltungswillens einer an sich selbst zweifelnden Branche.

Vor zehn Monaten sorgte eine ungeplante Veröffentlichung für Aufsehen. Ich meine den Bericht des Innovationsteams der New York Times : Es ist ein außergewöhnlicher Report, den acht New-York-Times-Leute unter der Überschrift „Innovation“ im Auftrag ihres Verlegers in monatelanger Arbeit erstellt haben. Ein Logbuch der Transformation, eine Art Masterplan, wie das journalistische Hochleistungsunternehmen auf allen zur Verfügung stehenden Verbreitungswegen seine schrumpfende Leserschaft ansprechen, wieder vermehren und an die Marke binden will. Es ist die Beschreibung einer revolutionären Kultur-Evolution in einem Traditionshaus. Der Focus liegt zum einen in den „Extra-Anstrengungen“, wie die journalistischen Angebote zu den Lesern kommen, wie sie „verpackt“ werden, wie Aufmerksamkeit für sie organisiert werden kann und wie eine Verbindung mit den Nutzern entstehen kann, die deren Loyalität zur Marke New York Times vertieft.

Auf der anderen Seite stehen tiefgreifende organisatorische Veränderungen, die mit dem harmlos klingenden Wort „Kooperation“ umschrieben werden. Gemeint sind neue vielfältige Kooperationen zwischen Redaktion und Verlag. Was so harmlos klingt, rüttelt an die Grundfeste der gewachsenen Strukturen und war bislang ein „NO-Go“. Bedingt durch schwindende Werbeerlöse und die steigende Bedeutung der Abonnement-Einnahmen sind „zum ersten Mal sowohl Redaktion als auch Verlag auf den Leser fokussiert“, schreiben die Autoren. Und es meint nicht weniger als den radikalen Umbau auf allen Ebenen. Digital first ist ein Paradigmenwechsel und nicht nur eine Online-Redaktion, die es auch noch gibt.

Zurück zu diesem „Mehr an Freiheit“: Was verheißt es den Journalisten? Zunächst einmal: Ein Füllhorn neuer Möglichkeiten, Raum zum Experimentieren. Noch nie hatten Journalisten Zugang zu diesen Mengen an Informationen, noch nie konnten sie so schnell, so gründlich und so vernetzt recherchieren. Die Auswertung der NSA-Dokumente oder das Aufdecken der Luxleaks-Affäre – es sind Ergebnisse neuer internationaler Kooperationen. Die Auswertung von Daten und die Visualisierung der Ergebnisse ist eine innovative Spielart der digitalen Recherche, ein wirkmächtiges Tool des investigativen Journalismus.

Das verlangt von Journalisten nicht nur die Affinität zur Technik, sondern setzt Kenntnisse und Fertigkeiten voraus, die traditionell im Journalismus wenig gefragt waren, aber nun zur Voraussetzung werden. Noch nie konnten Journalisten ihre Geschichten so vielfältig erzählen, noch nie standen so viele Darstellungsformen für so viele Verbreitungsmöglichkeiten zur Verfügung. Noch nie waren die Kombinationsmöglichkeiten so zahlreich und unterschiedlich. Auch hier gilt: die Multimedialität zu nutzen verlangt neue Kompetenzen und Fähigkeiten, die es zu erwerben gilt.

Und schließlich die Möglichkeiten der Partizipation der Nutzer und der Interaktion mit der Community, die zu einem anderen journalistischen Rollenverständnis führen. Dies verlangt dialogische Kompetenzen und Reflexionen, Neubestimmungen und Neuorientierungen, neue Wege, den Nutzer in den journalistischen Arbeitsablauf zu integrieren. Und was bedeutet das für den Nutzer? Die Möglichkeiten des Dialogs, der Artikulation, der Teilhabe, der Rückkoppelung zu den Redaktionen sind da. Noch nie war die Infrastruktur dafür so gut. Publizistische Mitbestimmung des Publikums gilt als Qualitätskriterium.

Und dennoch gibt es eine tiefe „Beziehungskrise“ , wie das Medienmagazin „Der Journalist“ in seiner jüngsten Ausgabe feststellt. Die „Journaille“, die „Schreiberlinge“ zu beschimpfen, sei salonfähig geworden. Die Glaubwürdigkeit der Medien, das Vertrauen in den Journalismus erodiert. Die Umfrage des NDR-Medienmagazins ZAPP brachte im Dezember vergangenen Jahres erschreckende Zahlen zutage: zwei Drittel der Befragten haben wenig oder gar kein Vertrauen in die Medien. Die Untersuchung ist

kein Ausreißer, sondern ergänzt das Bild, das andere Umfragen zeigen. Was also läuft da schief? Gleichzeitig ist eine Vielzahl von Menschen bereit, sich für journalistische Projekte außerhalb der etablierten Medien zu engagieren. Crowdfunding ist das Stichwort finanziellen Engagements. Crowdsourcing der Begriff für inhaltliche Beteiligung und Kooperation.

Meine Damen und Herren, uns geht es darum, den digitalen Wandel in Medien und Journalismus besser zu verstehen. Damit wir besser begreifen, wie auch künftig die Selbstverständigung der Gesellschaft funktioniert, die auf einen Qualitätsjournalismus angewiesen ist, der recherchiert und aufklärt, einordnet und gewichtet. Der relevant ist und transparent. Seien Sie willkommen zum lpr-forum-medienzukunft „Weitergeleitet ins Netz“.

12. März 2015