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Pressemitteilung
Über neue Denkmodelle und „zielgerichtetes Träumen“
lpr-forum-medienzukunft 2022
zum Thema „Die resiliente Gesellschaft. Über die nötige Vielfalt an Denkmodellen und den Journalismus in Krisen-Zeiten“ am 26. April in Frankfurt

Frankfurt am Main, 27. April 2021 Der Ukraine-Krieg und die Destabilisierung von Demokratien, die Verzerrung öffentlicher Diskurse durch Desinformation und globale Krisen wie die Covid-19-Pandemie oder der Klimawandel erfordern neue Lösungen für Transformationsprozesse, die mit herkömmlichen Denkmodellen kaum zu bewältigen seien. Deshalb setzten sich beim 13. lpr-forum-medienzukunft am 26. April in Frankfurt Expertinnen und Experten aus Politik, Wissenschaft, Gesellschaft und Journalismus mit der Frage auseinander, wie demokratische Gesellschaften gleich-ermaßen widerstands- und anpassungsfähig gemacht werden können, um die Grundwerte Freiheit und Gleichheit, Rechtsstaat und Nachhaltigkeit zu sichern. Dafür brauche es „verlässliche Informationen, geprüfte Fakten, vernünftige Argumentationen und den Willen, sich damit auseinanderzusetzen“, sagte der Direktor der gastgebenden Medienanstalt Hessen, Joachim Becker, bei seiner Begrüßung. Außerdem gehe es darum, dass wir „die Freiheit im Netz wiedergewinnen“, ergänzte die hessische Justizministerin Eva Kühne-Hörmann mit Verweis auf Hass, Beleidigungen, Nötigungen und Volksverhetzung, wie sie in sozialen Online-Netzwerken zu finden sind.

Falsche Informationen würden am Ende zu falschen Entscheidungen führen, so Viktor Mayer-Schönberger. Diese würden vielfach gezielt eingesetzt, um unsere Gesellschaft zu beeinflussen. Der Professor for Internet Governance and Regulation an der University of Oxford erklärte, Misinformation sei in der Social-Media-Welt so erfolgreich, dass entsprechende Nachrichten z.B. bei Facebook sechs Mal häufiger gesehen würden als korrekte Informationen. Sich bei der Debatte über Desinformation nur auf „richtige Daten“ zu konzentrieren, reiche jedoch nicht aus, lautete die zentrale These des Rechtswissenschaftlers. Vielmehr würden neue Denkmodelle benötigt, um bessere Entscheidungen zu ermöglichen. Als Methode, um sich bei der Suche nach Lösungen für komplexe Transformationsprobleme neue Perspektiven zu erschließen, empfahl Viktor Mayer-Schönberger „zielgerichtetes Träumen“. Nur so könnten wir innerhalb relevanter Rahmenbedingungen kreativ unser „Repertoire gedanklicher Modelle“ erweitern. Voraussetzung dafür sei eine Pluralität von Ansichten: Je mehr zielgerichtete Modelle existierten, desto größer sei die Chance, neue kreative Lösungen zu finden. Solche Prozesse seien von Algorithmen nicht zu leisten, warnte der Daten-Experte. Vielmehr gelte es, sich mit der Frage „Was wäre wenn?“ alternative Wirklichkeiten zu erschließen. „Es gibt keine falschen oder richtigen Denkmodelle, sondern nur ein falsches Anwenden“, sagte Viktor Mayer-Schönberger. Er ermutigte dazu, sich weniger an Informationen als an multiplen Entscheidungsszenarien zu orientieren. Über die unterschiedlichen Modelle müsse in einer Demokratie diskutiert werden. So könne aus einer Art „utilitaristischem Pluralismus“ gesellschaftliche Resilienz entstehen. Das sei eine „Meinungsstreit-Arbeit“, die sich nicht an Technologien delegieren lasse, setzte sich der Wissenschaftler zugleich für einen neuen Ansatz der Medienregulierung ein.

Automatisierte Entscheidungsprozesse böten wenig Spielräume, erklärte auch Indra Spiecker gen. Döhmann. Die Professorin für Öffentliches Recht, Informationsrecht, Umweltrecht und Verwaltungswissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt a. M. unterstrich, richtige Entscheidungen hingen jeweils von Bewertungsregeln ab. Über diese aber machten etwa digitale Plattformen für ihre Algorithmen keine Angaben, sodass gesellschaftliche Korrekturen nicht möglich seien. Die mangelnde Transparenz der Algorithmen und die schnelle Verbreitung von Falschinformationen sind nach Ansicht von Indra Spiecker „nur ein Teil des Problems“. Der von Viktor Mayer-Schönberger vorgeschlagene streitbare Diskurs werde in der Demokratie oft nicht akzeptiert. So würden mögliche Lösungen ausgeblendet, weil es an einer streitbaren „Zivilität des Diskurses“ fehle. Die „angestrebte Gleichheit“ der Meinungen bringe dann gesellschaftliche Debatten rasch zum Erliegen.

Ähnlich argumentierte auch der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel. „Wir halten immer weniger Dissens aus“, konstatierte der Experte für Vergleichende Politikwissenschaft und Demokratieforschung, der bis 2020 die Abteilung Demokratie und Demokratisierung am Wissenschaftszentrum Berlin leitete. Am Beispiel des Streits um Waffenlieferungen an die Ukraine verdeutlichte Wolfgang Merkel, wie ein künstlicher Moralismus bei vielen demokratischen Debatten eingesetzt werde, um die eigene Position zu stärken und gegnerische Argumente „zu entmachten“. Dies bewirke häufig eine „moralische Verengung“ in Situationen, in denen es besser sei, sich darum zu bemühen, andere Ansichten zu verstehen. Moralismus, so mahnte der Professor em. für Politikwissenschaft an der Humboldt Universität zu Berlin, bewirke eine „problematische Binärlogik“. Dann bleibe nur Raum für Fakten oder Fake, für Wahrheit oder Lüge, für Sieg oder Niederlage. Wolfgang Merkel wehrte sich gegen eine „Übermoralisierung“ vieler Diskurse und kritisierte, zu häufig werde an der „Polarisierungsschraube“ gedreht.

Andrian Kreye fasste das Phänomen globaler Transformationsprozesse mit dem Begriff der „Unkontrollierbarkeit von Multiproblemen“ zusammen. Dabei habe sich die zunächst hoch gelobte „Freiheitsmaschine Internet“ für die Lösung dieser Probleme zunehmend als Hindernis erwiesen. So würden etwa Social-Media-Inhalte wichtige Kontexte zum Teil durch Vereinfachung auflösen und unsere Aufmerksamkeit „pulverisieren“, sagte der Journalist der Süddeutschen Zeitung. Dass es in gesellschaftlichen und politischen Streitfragen zu selten Raum für Zwischentöne gebe, diagnostizierte auch Ayline Heller. Die Sozialpsychologin erklärte, in einer komplexen Welt seien „einfache Denkmodelle“ besonders attraktiv. Wer keine Mehrdeutigkeit (Ambiguität) aushalte, sei des-halb für polarisierende Modelle, wie sie etwa in geschlossenen, rechtsextremen Weltbildern existieren, anfällig. Entsprechend würden Krisen rechtsextreme Bewegungen begünstigen. „Wir müssen aushalten, dass es Graustufen gibt“, forderte die Wissenschaftlerin, die unter anderem den Zusammenhang spezifischer Sozialisationserfahrungen mit Rechtsextremismus und Autoritarismus erforscht. Für politische Diskurse empfiehlt Ayline Heller eine Kommunikationskultur, die auch Schwächen und Emotionalität zulässt.

Wie Journalismus mit der Berichterstattung über Krisen umgehen sollte, erläuterte Alexandra Borchardt. Die Beraterin und Honorarprofessorin der TUM School of Management der TU München machte darauf aufmerksam, dass es angesichts immer neuer Krisen beim Publikum einerseits eine Art Nachrichtenmüdigkeit (News Avoidance) gebe, andererseits die Corona-Pandemie aber zu einem Anstieg von Vertrauen in den Journalismus geführt habe. Aufgabe von Massenmedien müsse es sein, komplexe Zusammenhänge verständlich zu erklären, dabei Nutzungsbedürfnisse zu berücksichtigen und Transparenz für die eigenen Arbeitsroutinen herzustellen. Wichtig seien eine differenzierte Zielgruppenansprache, divers zusammengesetzte Redaktionen und das Aufzeigen unterschiedlicher Perspektiven. Statt eines „He said/she said“-Musters sei ein konstruktiver Journalismus gefragt, der Orientierung ermögliche, wo Angst und Unsicherheit herrschten.
Alexandra Borchardt bemängelte, der klassische Journalismus werde oft „verengt“, wenn auf das Politik-Ressort zu großer Wert gelegt werde, während beispielsweise die Bedeutung des Wissenschaftsressorts deutlich geringer sei. Außerdem setzte sich die Expertin nachdrücklich dafür ein, dass Redaktionen Haltungen zeigen müssten. Damit sei weder Aktivismus noch Meinungsjournalismus gemeint, sondern ein Eintreten für „Demokratie, Menschenrechte und die Erhaltung natürlicher Lebensgrundlagen“. Die oft geforderte journalistische Neutralität bedeute nicht Beliebigkeit, sondern eher Unparteilichkeit oder Unvoreingenommenheit (Impartiality). Journalismus brauche „eine Erdung“, sei ohne Haltung unmöglich, wenn er nicht zur Propaganda mutieren wolle.

Wie schwer es für Redaktionen ist, möglichst multiperspektivisch über Krisen zu berichten, wurde in der letzten Gesprächsrunde des 13. lpr-forum-medienzukunft deutlich: Die Buchautorin und Journalistin Susanne Götze, die im Wissenschaftsressorts des Nachrichtenmagazins Der Spiegel arbeitet, erklärte, die Berichterstattung über die Umwelt- und Klimakrise sei erst 2018 im Zuge der Fridays-for-Future-Bewegung auf eine breitere Akzeptanz gestoßen. Zuvor sei Umweltjournalismus oft als „Klimaaktivismus“ etikettiert worden. Mit der Ukraine-Krise werde nun die Energiewende zugleich zu einem Thema nationaler Sicherheit.

Mirjam Jenny, die am Lehrstuhl für Gesundheitskommunikation der Universität Erfurt den Bereich Science2Society leitet, lenkte den Blick auf die „schwierige Balance zwischen Angst- und Hoffnungskommunikation“. Ziel müsse es nicht nur sein, auf Probleme aufmerksam zu machen, sondern gleichermaßen lebenspraktische Orientierung und Zukunftsvisionen zu vermitteln. Durch diesen lösungsorientierten Journalismus (Solution Journalism) aber dürften echte Probleme nicht verdrängt werden, entgegnete Susanne Götze; deshalb müsse es in Deutschland auch mehr Spielräume für investigative Recherchen geben, wie dies in Großbritannien und den USA bereits der Fall sei. Darüber hinaus plädierte sie dafür, die Klimakrise als ein Querschnittsthema zu betrachten, das stärker ressortübergreifend behandelt werden müsse.

Sonja Schwetje, Chefredakteurin von ntv und RTL News, unterstützte die Meinung von Susanne Götze. Online und im TV-Programm von ntv sei mit dem „Klima Update Spezial“ ein eigenes For-mat geschaffen worden, das durch weitere Beiträge ressortübergreifend ergänzt werde. Wichtig für solche Ansätze seien eine Vielfalt in den Redaktionen und die „Durchlässigkeit“ von Ressorts. Zurzeit würden sich allerdings zu wenige Naturwissenschaftler für eine Tätigkeit im Journalismus entscheiden.

Zum Abschluss der Tagung betonte der Journalist und Buchautor Adrian Lobe in seinem Fazit, wichtig in der aktuellen Situation sei es, zuzuhören und nachzudenken, Dissens zu ertragen, zielgerichtet zu träumen und statt einer naiven Technikgläubigkeit einen eigenen Kompass zu entwickeln. Nur so könnten demokratische Institutionen eine robuste Resilienz entwickeln und fakten-basiert entscheiden, ohne in einen „permanenten Panikmodus“ zu verfallen.

Matthias Kurp
Matthias Kurp ist Professor an der HMKW Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Köln

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