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Archiv 2009 „Netz-Gesellschaft”

Die Netz-Gesellschaft

Wie wir künftig gesellschaftliche Verantwortung wahrnehmen

Winfried Engel
Vorsitzender der Versammlung LPR Hessen

20 Jahre LPR Hessen, das bedeutet auch 20 Jahre gutes Miteinander der beiden Organe in der LPR Hessen: Des Direktors und seiner Verwaltung auf der einen und der Versammlung mit ihren Ausschüssen auf der anderen Seite. Aus der Perspektive der ehrenamtlich in der Versammlung Tätigen soll sich mein Ausblick zentral der Frage widmen, wie wir als ein plural zusammen gesetztes Gremium angesichts einer sich grundlegend ändernden Medienlandschaft unsere Verantwortung wahrnehmen können.

Es ist Hans Jonas1, einer der großen Philosophen und Kulturkritiker des letzten Jahrhunderts, der uns das Bild vom „Aufprall der gesamten Technik der heutigen Menschheit“ mitgegeben hat. Er spricht von der „auf den Augenblick antwortenden Erfindungsgabe des homo faber“ und vom „Paradoxon des übergroßen Erfolges“, der sich in sein Gegenteil zu verkehren droht und damit in die Katastrophe.
Hans Jonas war kein Technikfeind, im Gegenteil: Er sieht vielmehr in der rasanten, sich beschleunigenden Entwicklung der modernen Naturwissenschaften, wie wir sie seit dem 17. Jahrhundert erleben, den Ausdruck der schöpferischen Freiheit des Menschen. Doch damit verbindet sich für ihn das „Prinzip Verantwortung“, wie sein großes Werk über die „Ethik für die technologische Zivilisation“2 heißt.
Jonas gibt uns – in Anlehnung an Kants kategorischen Imperativ – die Maxime mit: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ Das bedeutet, bei Fortschritten technischer Art immer die schlechtesten Folgen zu vermuten, um zu erkennen, was für die Zukunft bewahrt werden muss.

Nun mögen Sie sich nach diesen Bemerkungen fragen, ob vielleicht ein paar falsche Seiten in mein Manuskript für den heutigen Abend hineingeraten sind, zumindest aber, was diese Aussagen von Hans Jonas mit unserem Thema „Die Netzgesellschaft“ zu tun haben. Ich denke: Sehr viel, denn seine Maxime, die als „ökologischer Imperativ“ bekannt wurde, verweist uns auf das Verhältnis des Menschen zur Natur und auf unser Verhältnis zur Technik. Sie fordert uns zudem auf, hier und heute die möglichen negativen Auswirkungen zu bedenken und ihnen entgegenzuwirken. Das gilt auch für die sogenannten neuen Medien.

Wir befinden uns – was die Medienentwicklung betrifft – in einem radikalen, vielleicht sogar revolutionären Umbruch. Manche vergleichen die Wirkmächtigkeit des Mediums Internet mit der der Erfindung des Buchdrucks. Wir erleben in diesem Medium, wie Bert Brechts Forderung, dass der Distributionsapparat sich zum Kommunikationsapparat wandeln möge, Realität wird. Das Netz ist nicht nur Medium, es entfaltet eine immense Eigenwirkung. Informationen, Kontakte, die Nutzung traditioneller Medien wie Print, Fernsehen, Hörfunk und vieles anderes mehr – das Internet vermittelt den Eindruck, dass dort alles geht. Selbst problematische und nach unserem Rechtssystem unzulässige Inhalte sind dort zu finden. So wundert es nicht, dass die Rufe nach Aufsicht und Kontrolle immer wieder aus den verschiedensten Ecken erschallen. Doch die Kontrolle des Internet ist eine neue, in dieser Dimension bisher nicht bekannte Aufgabe. Die Medienregulierung mit ihren traditionellen Mitteln wie Lizenzerteilung, Sendeerlaubnis, Programmaufsicht oder was immer man nennen will, greift hier nicht mehr.

Als plural zusammengesetztes Gremium einer Landesmedienanstalt, konkret der LPR Hessen, haben wir unter anderem die Aufgabe, die Medienentwicklung zu beobachten und Programme zu beaufsichtigen. Dabei haben wir es bisher in erster Linie mit Rundfunk zu tun. Wir haben in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten Verfahren etabliert, wie wir die Entwicklung des werbefinanzierten Rundfunks kritisch und konstruktiv begleiten können. Angesichts der Entwicklungen im Netz stehen wir vor ganz neuen Aufgaben. Dabei sind wir als Vertreter gesellschaftlich relevanter Gruppen dem Interesse der Allgemeinheit verpflichtet. Das gilt auch für die Aufsicht über das Internet.

Doch was ist das konkret, dieses Interesse der Allgemeinheit? Auf den ersten Blick könnte man die Beantwortung dieser Frage als unmöglich bezeichnen. Die Interessen in einer Gesellschaft sind so verschieden, dass sie niemals auf einen Punkt gebracht werden können. Aber es geht nicht um Einzelinteressen der Bürger, sondern um die Interessen, die der Allgemeinheit dienen, die sie in ihrem Zusammenleben stützen, ihre Weiterentwicklung ermöglichen und fördern. Dazu gehört auch, die Forderungen des Artikels 5 Grundgesetz zu garantieren: das Recht auf freie Äußerung und Verbreitung seiner Meinung und ungehinderte Unterrichtung aus allgemein zugänglichen Quellen.3

Nun könnte man sagen, dass diese Forderungen des Grundgesetzes gerade durch das Internet gewährleistet werden. Mit ihm verbindet sich der Begriff einer großen Freiheit. Freiheit bedeutet aber auch die Möglichkeit zum Missbrauch. Wie weit dieser gehen kann, führen uns die Bereiche Kinderpornografie, Rechtsradikalismus, Volksverhetzung und Gewalt, um nur einige zu nennen, drastisch vor Augen. Dass dagegen angegangen werden muss, ist unstrittig. Doch Freiheit wird zugleich als hoher Wert gesehen, den es um jeden Preis zu verteidigen gilt. Die „Stopp-Schild“-Diskussion gegen kinderpornographische Seiten in der jüngsten Zeit hat gezeigt, wie allergisch auf regulierende Eingriffe in das Netz reagiert wird. Und die Politik respektiert offenbar diesen Protest. Die Koalitionsvereinbarung der schwarz-gelben Regierung verzichtet – zunächst jedenfalls – auf dieses Stopp-Schild. Und wenn wir nun konkret fragen, was wir als Aufsichtsgremium einer Landesmedienanstalt tun können, dann müssen wir ehrlich einräumen: Wir stehen dem Internet ziemlich machtlos gegenüber.

Doch das darf uns nicht resignieren lassen. Unsere Verantwortung für und gegenüber der Allgemeinheit gilt nach wie vor. Ansätze zum Handeln sind auch längst sichtbar und werden praktiziert. Die Stichworte hierfür sind: Selbstregulierung und Medienkompetenz. Das sind die zwei Seiten der Medaille, die da „Verantwortung“ heißt. Als Gremium haben wir die Aufgabe, permanent auf die Umsetzung beider Anliegen hinzuwirken.

Mit der Selbstregulierung sammeln wir seit geraumer Zeit im Jugendmedienschutz Erfahrung. Einrichtungen wie die Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia (FSM), eine Initiative der Online-Wirtschaft, nimmt zum Beispiel für das Netz Verantwortung wahr. Die Kommission für JugendMedienschutz KJM begleitet und kontrolliert die Arbeit der Selbstkontrolleinrichtungen. Ein insgesamt guter Ansatz, der jedoch der ständigen Weiterentwicklung sowie der kontrollierenden Begleitung und, wie ich meine, auch der Begleitung durch eine reflektierende und Bewusstsein schärfende öffentliche Diskussion bedarf. Diese zu forcieren und zu bereichern, gehört zu den Aufgaben des plural zusammengesetzten Gremiums einer Landesmedienanstalt.

Dass das Internet zwar ein freier, aber kein rechtsfreier Raum sei, diese Aussage hört man oft. Das darf, bei aller Schwierigkeit der Durchsetzung, niemals vergessen werden. Genau dieses im Bewusstsein zu halten, ist auch unsere Aufgabe.

Richtig ist schließlich auch: Das Internet und die Medien überhaupt sind kein wertfreier Raum. Verständigung über Werte bedarf des Diskurses. Eine Gesellschaft muss sich ihrer eigenen Grundeinstellungen und –werte immer wieder vergewissern. In diesem Dialog müssen religiöse, philosophische, ethische, pädagogische und andere Aspekte beachtet werden. Das Zusammenleben von Menschen erfordert einen Mindestkonsens, um den heute mehr denn je gerungen werden muss. Hierzu gehören zum Beispiel gesellschaftliche Konventionen. Sie zu ignorieren oder in Frage zu stellen, ob im Internet oder den anderen Medien, kratzt an den Grundlagen gesellschaftlichen Zusammenlebens. Es geht um bestimmte Formen und Motive sozialen Verhaltens wie Schadenfreude, Scham oder Barmherzigkeit, bestimmte Lebensformen wie Familie oder Ehe sowie allgemein gültige Vorstellungen über Eigentum“. Gremien müssen nach meiner Überzeugung ihren Beitrag dazu leisten, dass solche Grundlagen „nicht beschädigt, der Lächerlichkeit preisgegeben oder einfach sinnlos in Frage gestellt werden“. Schließlich sind noch gesellschaftliche Tabus zu nennen. Hierzu gehören rassistische wie antisemitische Äußerungen und alle Arten offener und verdeckter Diskriminierungen von Gruppen der Bevölkerung oder Minderheiten. Meist sind es Darstellungen, die in ihrer Ausprägung vielleicht noch nicht die Bestimmungen des Jugendschutzes berühren oder als ein Verstoß gegen die Menschwürde gewertet werden müssen. Durch sie werden jedoch mittel- und langfristig Grundeinstellungen beeinflusst, die sich negativ auf das gesellschaftliche Zusammenwirken auswirken können.

Die andere Seite der Medaille „Verantwortung“ ist Medienkompetenz. Nur der kompetente Nutzer kann Verantwortung übernehmen und tragen. Als Gremium fördern wir die Vermittlung von Medienkompetenz, begleiten medienpädagogische Projekte auch kritisch und versuchen Impulse für neue Aktivitäten zu geben. Diese Projekte betreffen die klassischen Medien wie Hörfunk und Fernsehen aber auch neuere Medien wie das Internet.

Wie wir künftig gesellschaftliche Verantwortung wahrnehmen – so lautet das Thema meines Beitrags. Ich konnte zu diesem weiten Feld nur einige Stichworte nennen. Abschließend möchte ich versichern: Wir werden diese Verantwortung wahrnehmen, indem wir weiterhin – wie seit 20 Jahren – mit erprobten Verfahren die Entwicklung der Medienlandschaft und insbesondere der Programme in den Klassischen Medien begleiten. Wir werden es aber auch tun, indem wir uns neuen Entwicklungen wie dem WorldWideWeb und all seinen Möglichkeiten stellen und auch da unsere gesellschaftliche Verantwortung wahrnehmen. Wege dafür müssen zum Teil noch gefunden werden. Und wir werden bei der Suche helfen. Dafür sind wir da, das sind wir uns und vor allem der Gesellschaft, die wir repräsentieren, schuldig.

Frankfurt, 4. November 2009

1 1903-1993

2 Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung: Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt/M. 1979.

3 Vgl. Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Art.5

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