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Archiv 2019 "Entgrenzt optimiert ersetzbar"

Pressemitteilung

Über den technologischen Schleier der Digitalisierung
lpr-forum-medienzukunft 2019
zum Thema Entgrenzt_optimiert_ersetzbar am 4. April in Frankfurt

Frankfurt am Main, 5. April 2019 Wie lassen sich im Kosmos der Möglichkeiten des Internets die positiven Potenziale nutzen und die Risiken eingrenzen, die aus der Beschleunigung, Granularität, Unübersichtlichkeit und virtuellen Permanenz digitaler Kommunikation resultieren? Wie verändert sich in einer digitalisierten Gesellschaft die Beziehung zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft? Und welche Rolle spielen dabei Medien und Journalismus? Diese drei zentralen Fragen prägten am 4. April beim 10. lpr-forum-medienzukunft in Frankfurt Vorträge und Diskussionen zum Thema „Entgrenzt_optimiert_ersetzbar. Digitale Herausforderungen an das Ich und was daraus für die Gesellschaft folgt“.

Die Zeit, in der das Internet als eine Art „Ersatzreligion“ gepriesen worden sei, die automatisch Demokratie, Bildung, Wohlstand und Frieden für alle bedeute, sei längst vorbei, bilanzierte Susanne Gaschke. Die Journalistin und Publizistin (Die Welt, Welt am Sonntag) verwies auf Hass, Fake News, Desinformation und auf „viel sinnlose Kommunikation“ in den sozialen Online-Netzwerken. Außerdem verleite die Anonymität Menschen dazu, sich strafbar zu verhalten. Die Algorithmen der großen Tech-Konzerne seien längst die neuen Gatekeeper und ein „Kernproblem der Disruption demokratischer Öffentlichkeit“. Die zufällige Beobachtung von etwas ursprünglich nicht Gesuchtem (Serendipität) sei in der Online-Logik der Personalisierung von Internetinhalten nicht mehr möglich, argumentierte die Buch-Autorin. Zugleich zerstöre das Unbundling von Informationen, die von der klassischen Zeitung noch als Mischung unterschiedlicher Themen angeboten werden, künftig die Querfinanzierung von publizistischer Qualität durch reichweitenstarke Inhalte. In der Folge würden sich aufgrund der Aufmerksamkeitsökonomie online fast nur noch oberflächliche Informationen finden und zu einer „Erregungskultur“ beitragen. Gaschke warnte vor einem neuen „technologischen Schleier“ (Adorno), bei dem die Menschen die digitale Technik für ein Ding an sich halten. Es fehle in diesem Zusammenhang an Technikfolgenabschätzung und an einer öffentlichen Debatte über den Schutz von Demokratie und sozialer Umwelt. Außerdem müssten die Nutzer mehr über die Geschäftsmodelle der großen Internet-Konzerne aufgeklärt werden.

Philosophie-Professor Markus Gabriel (Universität Bonn) setzte sich ebenfalls dafür ein, die Öffentlichkeit gezielt darüber zu informieren, wie das Facebook-Prinzip, das aus Nutzerdaten Geld macht, funktioniert. Wenn sich Facebook und Twitter nicht an geltendes Recht halten würden, müsse das von Medien stärker thematisiert werden. Und wenn bei Facebook 1,5 Millionen Kopien des Videos mit Bildern des Christchurch-Attentäters kursierten, müsse das Unternehmen dafür verantwortlich gemacht werden. Dorothee M. Meister, Vorsitzende der Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur, erklärte, Jugendliche würden durch soziale Online-Netzwerke „angetriggert“. Die Erziehungswissenschaftlerin und Professorin für Medienwissenschaften (Universität Paderborn) forderte, Nutzer von sozialen Online-Netzwerken müssten lernen, dass es dort nicht nur darum gehe, sich selbst zu präsentieren, sondern dass diese Kommunikation auch „sozial eingebettet“ sei. „Wir müssen mit Jugendlichen über Kommunikationskultur reden“, lautete der Appell von Dorothee M. Meister an die Verantwortlichen der Bereiche Medien, Bildung und Politik.

Wie der Trigger-Effekt als Auslöser für die massive Nutzung von sozialen Online-Netzwerken funktioniert, erläuterte Sebastian Markett. Der Professor für Molekulare Psychologie (Humboldt-Universität zu Berlin) referierte Ergebnisse aus Studien, die belegen, dass Facebook im menschlichen Gehirn einen „unfassbar starken Einfluss auf das Belohnungssystem“ habe. Social-Media-Aktivitäten würden im Nervensystem eine positive Stimulanz samt Sog-Wirkung auslösen. Auch die Entwickler von Smartphone-Applikationen würden solche Effekte einsetzen, um Nutzer möglichst lange zu binden. Daraus resultierten „ähnliche Wirkungen wie bei bestimmten Drogen“. Deshalb warnte Philosophie-Professor Gabriel davor, Social-Media-Angebote in der Schule einzusetzen. Das sei eine ähnlich schlechte Lösung, als würden zur Drogenbekämpfung in Schulen Drogen eingesetzt.

Welche Effekte die Bildung von Teil-Publika und die Etablierung spontaner Bewegungen in den sozialen Online-Netzwerken haben können, analysierte Jeanette Hofmann. Die Forschungsdirektorin des Alexander von Humboldt-Instituts für Internet und Gesellschaft skizzierte die Strukturen solcher Netzwerke als unrepräsentierbar, ungesteuert, temporär und selbstorganisierend. Das Ergebnis seien neue politische Organisationsformen, wie sie sich etwa in der Friday-for-Future-Bewegung oder den Protesten gegen den Artikel 13 des neuen europäischen Urheberrechts zeigen. Solche Bewegungen sollten von der Politik ernst genommen werden, empfahl die Politikwissenschaftlerin. Jugendliche suchten Orientierung, müssten aber auch ein stärkeres Problembewusstsein in puncto Kommunikationskultur entwickeln.

Die von der Digitalisierung ausgelöste technologische und gesellschaftliche Disruption, so waren sich die Experten beim 10. lpr-forum-medienzukunft in Frankfurt einig, erfordert einen neuen gesellschaftlichen Diskurs über das Ich und das Wir einer globalisierten „Always-online-Gesellschaft“. Wenn sich neue Möglichkeiten ergeben und sich damit die Anforderungen an den Einzelnen ändern würden, bleibe das nicht ohne Folgen auf das gesellschaftliche Gefüge und den politischen Zusammenhalt, sagte Joachim Becker. Der Direktor der LPR Hessen betonte: „Das Ich steht in einem kollektiven Zusammenhang und ist ohne Gesellschaft nicht denkbar.“ Der radikale Wandel verlange große Anpassungs- und Veränderungsleistungen, löse bei vielen aber auch ein Gefühl des Ausgeliefertseins aus. Wenn sich der Mut der Politik, die digitale Welt menschengerecht zu gestalten, nicht so recht vermitteln lasse, drohe ein „weiterer Verlust an Vertrauen in Regierung und politische Institutionen“.

Was sich im Journalismus ändern sollte, um verloren gegangene Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen, beleuchtete Stephan Weichert. Anerkennungszwang, Personenkult und wirtschaftlicher Druck hätten zu Entwicklungen geführt, wie sie in der Relotius-Affäre deutlich geworden seien. Der Professor für Journalistik und Kommunikationswissenschaft (Hamburg Media School) plädierte für mehr Transparenz und Neutralität im Journalismus, für einen intensiveren Dialog mit den Rezipienten und einem anderen Umgang mit journalistischen Themen. Diese sollten nicht auf die Nachrichtenfaktoren von Krisen, Kriegen und Katastrophen beschränkt werden, sondern müssten auch positive Entwicklungen und konstruktive Lösungen berücksichtigen.
Matthias Kurp

Matthias Kurp ist Professor an der HMKW Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Köln

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