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Beispiel 3: Die Social-First-Nachrichten
Dr. Clas Dammann, Teamleiter heute+, ZDF

Anmoderation Ingrid Scheithauer:
Unser Beispiel 3 der Erkundungen in der neuen Welt des Journalismus kommt vom ZDF. Ein Sender, der sich in besonderer Weise mit der Demografie seines Publikums herumschlagen muss. Umso wichtiger ist das Projekt, um das es jetzt geht: heute+. Es ist im vergangenen Jahr an den Start gegangen. „heute+“ ist ein Nachrichtenangebot für ein junges Zielpublikum und will die jüngeren Nutzer dort erreichen, wo sie sind: im Netz und den sozialen Medien.
An der Entwicklung maßgeblich beteiligt war Clas Dammann, der das heute+-Team leitet. Er arbeitet seit 2000 für das ZDF und kennt das Nachrichtengeschäft aus verschiedenen Funktionen. Was es mit den Social-First-Nachrichten auf sich hat, erklärt er uns jetzt.

Clas Dammann:
Wir sind im Mai 2015 an den Start gegangen. Ziel war, ein deutlich jüngeres Publikum zu erreichen als uns das in unseren Hauptnachrichtenformaten gelingt. Deshalb haben wir einen Schritt getan, der zum Schluss eine relativ einfache Distributionsstrategie beinhaltet. Alles, was wir publizieren, publizieren wir zuerst in den sozialen Netzwerken und den ZDF-online-Plattformen und erst danach kommen die Inhalte am späten Abend im Fernsehen. Unsere Sendung läuft um 23:00 Uhr im Live-Stream in der ZDF-Mediathek und gegen 0:30 Uhr im Fernsehen. Wir bemühen uns, möglichst viel von dem, was dann in der Fernsehsendung insgesamt kommt, vorab schon verfügbar zu haben – über die verschiedenen sozialen Plattformen, die wir bespielen. Unser Ziel ist vor allem eins – das Gespräch zu ermöglichen. Das ist ein Diagramm mit einer Pyramide, das haben Kollegen von The Young Turks Network (TYT Network) entworfen, ein sehr populärer Kanal in den USA. Wir zielen mit unseren Inhalten auf die Spitze der Pyramide, auf die Konversation. Wir versuchen, unsere Inhalte so zu gestalten und so zuzuschneiden, dass wir darüber mit unseren Nutzern in die Diskussion treten können – entweder wir mit ihnen oder eine Diskussion unter den Nutzern anstoßen. Wir denken, dass es auch zu unserem Auftrag gehört, eine Plattform für Diskussionen anzubieten und Inhalte, die zu einer Diskussion führen. Deshalb konfektionieren und formatieren wir unsere Inhalte so, dass sie erfolgreich in den sozialen Medien laufen, ohne dass wir dabei unsere Relevanz preisgeben. Dass das möglich und erfolgreich ist, zeigt das erste knappe Jahr heute+.

Seit dem Start im Mai 2015 sind wir jetzt bei 12.000 Followern auf Twitter und 83.000 Likes bei Facebook. Für uns ist es sehr erfreulich, dass 62 Prozent unserer Nutzer dort zwischen 18 und 34 Jahre alt sind. Das ist für das Internet „mitteljung“, aber für uns sind sie – mit Blick auf unsere TV-Nutzer – schon recht jung. Wir sind sowohl quantitativ als auch qualitativ zufrieden mit dem, was unter den Inhalten stattfindet: Wir haben im Durchschnitt ungefähr 370 Interaktionen pro Post. Das schwankt je nach Inhalt, geht aber zum Teil auch schon in die 10.000/20.000er Marke, wenn es um das Teilen von Nachrichten geht. Da liegen unsere erfolgreichsten Beiträge.

Ich möchte Ihnen einen kurzen Abriss der Formate präsentieren, die bei uns sehr gut laufen, um zu zeigen, in welchem Spannungsfeld wir uns da bewegen. Bei uns läuft die simple Tatsache sehr gut, dass wir versuchen, Nachrichten zu erklären und sie so verständlich zu machen, dass wir in diesem ganzen Rauschen, das in den digitalen Welten vorherrscht, unseren Nutzern nach Möglichkeit Inhalte an die Hand geben, die ihnen Orientierung bieten. Die klassische Webüberschrift dazu wäre: „Alles, was Sie wissen müssen, um zu verstehen, worum es bei diesem Thema geht.“ – das versuchen wir anzubieten. Dafür haben wir mehrere Formate entwickelt, zum Beispiel ganz animierte Erklärgrafiken. Für diese Videos haben wir eine neue grafische Erklärsprache, ein neues Newsdesign entwickelt, das sehr viel grafischer und plastischer arbeitet. Die Schriften und Schriftgrößen, die Sie sehen, zielen speziell darauf, auf mobilen Geräten verfügbar zu sein. Das Video links oben ist beispielsweise eins unserer erfolgreichsten, es hat knapp 20.000 Teilungen erzielt, es erklärt ganz simpel, was im Fastenmonat Ramadan passiert. Das andere erklärt die totale Mondfinsternis, die wir letztens hatten. Das hatten wir am Wochenende vor dem Ereignis auf unserer Website und das ist da auch sehr gut abgerufen worden. Dieses Erklärende und die Orientierung, die wir damit versuchen zu liefern, das funktioniert sehr gut bei uns.

Getreu dem Motto, dass der britische Guardian bei seiner Gründung beschrieben hat: Comment is free, but facts are sacred. Natürlich laufen meinungsstarke Inhalte besonders gut, die versuchen wir zu Nachrichtenereignissen anzubieten, die sowieso schon bekannt sind und die tagsüber laufen. So haben wir beispielsweise unsere Kollegen von der Rechtsabteilung letztens gebeten, die Pros und Cons zum NPD-Verbotsverfahren nach den ersten drei Verhandlungstagen beim Bundesverfassungsgericht zusammenzufassen; sie stellen im Grunde die unterschiedlichen Positionen gegenüber. Unser Moderator Daniel Bröckerhoff ist bei einer anderen Gelegenheit mehreren Gerüchten und Behauptungen in Sachen Flüchtlinge nachgegangen und hat versucht, ein bisschen Licht ins Dunkel zu bringen und Fakten und Zahlen zu den verschiedenen Themengebieten anzubieten.

Und damit zu Teil II des Guardian-Mottos: „Facts are sacred“. Immer wieder werden wir davon überrascht, was besonders gut abgerufen wird und was unseren Erwartungen dann widerspricht. Kleines Ratespiel für Sie, was hat besser funktioniert: die fünf besten und kreativsten Last-Minute-Geschenke zu Weihnachten oder eine kurze Geschichte des Syrien-Konflikts anhand der unterschiedlichen religiösen Gruppen. Beides ist am selben Tag auf Facebook gelaufen. Der Syrien-Konflikt ist mit 231 Teilungen deutlich besser gelaufen als die Last-Minute Weihnachtsgeschenke. Wir erklären uns das damit, dass diese hintergründige Betrachtung dessen, was wir mit der Flüchtlingssituation erleben, von unseren Nutzern nachgefragt wird. Natürlich merken wir auch, dass unsere Nutzer in bestimmten Themengebieten – gerade was die Flüchtlingsfrage angeht – in einer sehr eigenen Welt leben. Das macht es zum Teil sehr schwer und sehr aufwändig, die Kommentare zu moderieren. Nichts desto trotz versuchen wir immer wieder, in diese Filter-Blase reinzustechen und die Leute mit komplett anderen Inhalten auch zu provozieren. Das war ein Stück über den Vorschlag eines Berliner Think Tanks, das Geld in die Flüchtlinge zu investieren, man müsse es ihnen direkt übergeben, dass sie eigene Städte, wie damals die Siedler in den USA, auch hier in Deutschland bauen können. Also Neu-Damaskus an der Spree. Sie können sich vorstellen, was unter diesem Inhalt los war. Da waren mehr als 100 Kommentare, die alle gesagt haben, „Ihr habt ja wohl ‘nen Vogel“. Dennoch darf man sich davon nicht irritieren lassen. Wir denken, dass es zu unserer Aufgabe gehört, auch solche Gedankenexperimente zur Verfügung zu stellen und zu erklären, dass auch unbequeme Gedanken jenseits einer konkreten Realisierbarkeit, interessant und lohnenswert sein können.

Deshalb versuchen wir, wenn wir in der Moderation der Kommentare sind, den Shitstorm zu lesen. Natürlich diskutieren wir häufig im Team, sind wir noch Journalisten oder eher Sozialtherapeuten oder Psychiater? Oft genug haben wir das Gefühl, dass dort Leute unterwegs sind, die wir nicht überzeugen können, dennoch versuchen wir mit ihnen in die Diskussion zu treten, nicht, weil wir sie überzeugen können, sondern weil wir wissen, dass noch genügend andere, die vielleicht unsicher sind, diese Kommentare mitlesen. Und um die zu erreichen, lohnt es sich, in die Kommentare zu gehen und ansprechbar zu sein. Ein Beispiel, das es durchaus eine journalistische Aufgabe sein kann, in den Kommentaren nach Themen zu suchen oder sie dort zu identifizieren: Das war Ende vergangenen Jahres ein Zwanzig-Sekunden-Stück zur Ankündigung der stellvertretenden Ministerpräsidentin Schwedens von der Grünen Partei, dass sie die Grenzkontrollen wieder verstärken, weil sie nicht so viele Flüchtlinge unkontrolliert über die Grenzen passieren lassen können. Darunter, auch das können Sie sich denken, wieder eine Flut von Kommentaren, von denen der freundlichste Tenor war, jetzt kommen auch die Grünen in der Realität an, aber erstaunlich war, dass es etwa 10, 20, 30 Kommentare gab, die der festen Überzeugung waren – und das auch mit Zahlen zu belegen versuchten –, dass natürlich die Grenzen in Schweden geschlossen werden mussten, weil die Zahl der Vergewaltigungen eindeutig durch die höhere Zahl an Flüchtlingen so weit nach oben gegangen sei. Wenn Sie recherchieren, woher diese Fakten kommen, dann sehen Sie sehr schnell, dass es zwei oder drei Verschwörungsseiten sind, wo genau diese Zahlen herkommen, die immer wieder in der Diskussion aufgegriffen wurden. Deshalb haben wir unseren Kollegen, der für Schweden zuständig ist, gebeten, hinter die Zahlen zu schauen. Und ja, tatsächlich ist die Zahl der Vergewaltigungen in Schweden gestiegen, was aber damit zusammenhängt, dass eine deutlich größere Zahl von Delikten unter den Begriff Vergewaltigung fällt: Deshalb sind die Zahlen in Schweden höher als im Rest von Europa. Dazu hat es vor einiger Zeit eine Verschärfung des Straftatbestandes gegeben und damit einen weiteren Anstieg der Zahlen. Mit der gestiegenen Zahl der Flüchtlinge hat dieser Zuwachs also nichts zu tun. Zumal in Schweden die Nationalität der Straftäter gar nicht erfasst wird. Es lohnt sich also näher hinzuschauen. Ist es tatsächlich so? Können wir Sachverhalte faktisch überprüfen? Können wir einen anderen Blick auf Themen werfen?

Was immer gut funktioniert, sind Beiträge mit einer positiven Grundhaltung. Das meint nicht, dass sie süß und niedlich sein oder von Katzen handeln müssten, sondern dass sie politische Themen behandeln können. Einer unserer erfolgreichsten Beiträge mit über 20.000 Teilungen erzählt von einem Syrer, der nach Deutschland geflohen ist und jetzt jedes Wochenende für Obdachlose kocht. Eine Person, mit der sich wahrscheinlich viele von unseren Nutzern identifizieren wollen und sagen, er hat wenig und teilt trotzdem. Ganz anders, aber ähnlich erfolgreich ist die Geschichte über einen freundlich-sympathischen Herrn, 70 Jahre alt, der, nachdem er bei Instagram gepostet worden ist, der Hipster-Opa von Berlin ist, der immer noch auf Techno-Partys geht. Das haben die Leute geteilt, weil sie sagen, super, wenn ich 70 bin, bin ich so wie der. Das sind so die relativ trivialen Teil-Impulse. Dennoch aber auch Geschichten, die wir auch sonst in unserem Programm erzählen würden. Vielleicht als klassische Aussteiger in unserem Programm. So wie wir insgesamt feststellen, dass unsere Fokussierung auf die sozialen Netzwerke nicht dazu führt, dass unsere TV-Ausgabe darunter leidet, wir haben eine Vielzahl an Formatierungen oder neuen Ideen für die sozialen Plattformen entwickelt, weil wir feststellen, dass sie dort nachgefragt werden, und die gleichzeitig die TV-Sendung vielfältiger machen und somit bereichern.

Ein wichtiger Aspekt unserer Arbeit ist, dass wir über die sozialen Plattformen nahbar und ansprechbar sein wollen. Der Austausch mit unseren Nutzern kann uns zum einen zu neuen Themen und zu Follow-ups von Themen führen, die wir bereits aufgegriffen haben, oder insgesamt die Transparenz unserer Arbeit darzustellen, oder hinter die Kulissen blicken zu lassen, das kommt uns wirklich zugute. Deshalb gibt es den Livestream auch immer parallel auf Periscope, da sehen Sie, dass es eigentlich gar nicht so viel Sinn macht das zu gucken, weil das ganze Bild mit Kommentaren vollgeschrieben ist. Trotzdem haben wir eine, wenn auch kleine Community, die das jeden Abend mit großer Begeisterung guckt. Periscope ist eine mobile App von Twitter. Wie wir unsere Sendung da hineinbekommen, ist noch etwas provisorisch: Wir haben einen Kasten gebaut, den wir jeden Abend vor ein Fernsehgerät klemmen; und in diesen Kasten klemmen wir dann das Smartphone und filmen den Bildschirm ab. Es gibt keinen anderen Zugang zu dieser Plattform als die jeweilige Handykamera, weil es eine mobile App ist. So lange das so ist, ist das neue Digitale ziemlich analog.

Nachdem Facebook mitbekommen hat, dass wir so viel auf Periscope machen, haben sie gesagt, wir schalten euch für Mentions frei, dem Livestreaming Dienst von Facebook und über den können wir Sachen wie kurze Live-Reportagen machen. Wir haben den Koch aus Syrien nochmal besucht, das können Leute auch parallel kommentieren und ihre Meinung dazu sagen. Unser Moderator Daniel Bröckerhoff sowie seine Kollegin Eva-Maria Lemke sind seit neuestem auf Snapchat und machen da ein Snap-Diary. Sie zeigen ihre Arbeit im Alltag. Hier sieht man unsere Schlussredakteurin des Abends, so können wir nahbar und ansprechbar sein. Wir können unsere Arbeit transparent machen und unseren Nutzern einen Blick hinter die Kulissen erlauben, was bei unserem Publikum sehr gut ankommt.

Das ist für uns ein sehr spannendes und sehr interessantes Feld. Natürlich wissen wir um die beschriebenen Risiken, dennoch sehen wir dazu im Grunde keine wirklichen Alternativen. Wir müssen unsere Inhalte neben dem TV über mehrere andere Kanäle anbieten, um neue Zuschauerschaften zu erreichen. Die Nutzer haben schließlich bereits dafür gezahlt.